Prof.Roland Ostertag,Gähkopf 3, 70192 Stuttgart,Tel.0711/605337,Fax. 6o74243,e-mail:roland-ostertag@gmx.de

04. 01.2016


Die halbierte, die entzauberte Welt / Stadt,
Eine neue Schlichtung.

Zu Zahlen und Daten
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Schlüssel aller Kreaturen
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden schaffen
Und man in Gedanken und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort
Novalis(Friedrich von Hardenberg)

Von Halbierung, von halbierten, halben Sachen wird zunehmend gesprochen. Dann, wenn ursprüngliche Gesamtheiten, Ganzheiten, Spaltung, Trennung, Auseinanderdriften droht oder schon eingetreten ist. Gemeint ist nicht die exakte numerische, die 50 Prozent-Halbierung, sondern das grundsätzliche Auseinanderbrechen von Zusammengehörigem.
die halbierte Welt steht für ihre Spaltung in einen reichen und einen armen Teil,
die halbierte Gesellschaft steht für die zunehmende soziale Spaltung unserer Gesellschaft,
die halbierte Stadt steht für ihre Trennung in unterschiedliche räumliche und soziale Teile.
die halbierte Moderne, steht für die „klassische Moderne“ oder was von ihr übrig geblieben ist, und dem Teil, der sich von ihr verabschiedet/ emanzipiert hat, eine neue Moderne sucht,
das halbierte Europa steht für die drohende Spaltung in arme, gefährdete Nationen wie Griechenland, Irland, bald Portugal und den reichen, scheinbar nicht gefährdeten Nationen,
die halbierte Zeit steht für das Auseinanderklaffen von gemessener und erlebter Zeit

Auch unsere Stadt wird von dieser Halbierung nicht verschont. Sicht- und wahrnehmbar bei der laufenden Schlichtung zwischen Befürwortern und Gegnern des Bahnprojekts Stuttgart 21 unter der Regie von Heiner Geißler. “Alle Fakten müssen auf den Tisch“, „eine Fach- schlichtung, ein Fakten-Check“ soll es sein. Unsere Gesellschaft, unsere Städte, sind starken, quantitativen und weichen, qualitativen Kräften ausgesetzt. An dieser Halbierung, dem Primat der Technik, der Wirtschaftlichkeit, dem Ökonomismus, der Machbarkeit orientiert sich die Themenliste der Schlichtung. Rasch einigten sich die beiden Seiten, welche Themen darunter verstanden und behandelt werden sollen: Im Vordergrund die starken, quantitativen Kräfte: die bahnverkehrlich-strategische Bedeutung, die verkehrliche Leistungsfähigkeit des Projekts, Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, Nutzen, Geologie, Ökologie/Städtebau, Kosten, Wirtschaftlichkeit. Bei einem Faktencheck muss selbstverständ- lich alles quantifizier-, messbar sein, Daten und Zahlen, Hektar, EURO, sec, qm, Statistiken, Tabellen. Gemessen werden: Geschwindigkeit, Tempo, Züge, Menschen, Schienen, Gleise, Fahrzeitverkürzung, Machbarkeit. Unüberhörbar das 19.Jahrhundert:höher, weiter, schneller.
In der jahrelangen Auseinandersetzung zwischen S 21 und K 21 spielten fast nur diese „Fakten“ eine Rolle. Exaktes Abbild des Wertsystems, des Weltbilds unserer Gesellschaft. Stuttgart 21, sein Leitbild, unterliegt dem Diktat dieser „Fakten“. Selbst K 21, auch die Schlichtung als Teil dieser Gesellschaft kann offensichtlich diesem Diktat nicht entgehen.
Die Stadt wird betrachtet als funktionierende Maschine, die Menschen als zu befördernde Ware, der Bahnhof als Abfertigungsanlage. Arm, kalt, namen-/geistlos.
Mit einer derartigen Themenliste kann man in unserer effizienz- und vermarktungs- versessenen Welt Maschinen, Autos checken, bewerten. Damit lassen sich Qualitäten von Städten/ Lebenswelten, von städtischen (Groß-) Projekten nicht erfassen, bewerten. Auch nicht in Geißlers „Schlichtung“. Fakten, Faktencheck genügen nicht.

Diese Welt dieser Fakten ist nur die eine Seite, ist die halbierte, die entzauberte Welt, Stadt.
Die genannten und andere quantitative Faktoren/Fakten sind sicher wichtig, doch der andere Teil der „halbierten Welt/Stadt“, die qualitativen, die nicht messbaren, nicht mit Zahlen und Daten fassbaren Faktoren, die „weichen Kräfte“ sind mindestens ebenso wichtig, langfristig die wichtigeren. Unsere Lebensführung bringt es mit sich, dass die eine quantitative Hälfte zunehmend an Bedeutung gewinnt, während die andere qualitative vernachlässigt, verges- sen wird, bestenfalls in Randzonen abgedrängt wird, dort sich wieder findet.



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Das andere Leitbild der weichen, der qualitativen Kräfte beinhaltet nicht nur die städtebaulichen Aspekte im engeren Sinne, es umfasst die stadtplanerischen, die räumlichen, die sozialen, die kulturellen, die historischen, die atmosphärischen, die emotionalen, die menschlichen Aspekte, die Themen Denkmalschutz, Nutzung, geistig-räumliche Mobilität/Vitalität, Gedächtnis der Stadt, (Bewusstseins-)Landschaft, Zukunfts-Perspektive. Bis hin zu den Fragen nach der Bedeutung, nach dem Sinn der Dinge, der Stadt, der Welt, dessen was wir denken und tun.

Städte sind, Stuttgart ist Ergebnis einer langen Entwicklung, kein Ort primitiver „Bedürfnis- befriedigung“, ist „begehbares Gedächtnis“, bestehend aus Schichten seiner Ge-Schichte, die seinen Charakter, seine Persönlichkeit formen. Aufgefordert sind wir darauf eine neue Schicht der Geschichte aufzubringen. Um dies zu können, gilt es, aus den Zügen der Städte ihre Herkunft, ihr Grundgesetz zu erkennen, um sie weiter entwickeln zu können.
Stuttgart 21 bedeutet radikalen Austausch, radikale quantitative Änderungen, die geeignet sind den Charakter, die Persönlichkeit der Stadt massiv zu bedrängen. Dabei wird gegen das Gesetz der Reversibilität der kleinen Schritte/Fehler verstoßen, indem irreversible große Schritte/Fehler gemacht werden.
Der Alternative, K 21, liegt die Strategie der kleinen, stufenweisen Schritte in die richtige Richtung zugrunde, will keinen radikalen Austausch, ist für behutsame qualitative Änderungen. K 21 will auf die vorhandenen Schichten der Geschichte eine neue Schicht der Geschichte aufbringen, behutsam, schrittweise. Die Stadt wird gedacht und gemacht als Stadt von heute für die Menschen von heute.

Aus unserem städtischen Erbe, unserem „begehbaren Gedächtnis“ schöpfen die Menschen ihre Erinnerung, altdeutsch mit Heimat, neudeutsch mit Identität bezeichnet. Dort suchen sie Übereinstimmung mit sich selbst, als Person, als Kollektiv. In diesen Werten und Kräften suchen die Menschen Halt in unserer kalten Welt.
Der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung. Entsprechend sehen unsere Städte und Landschaften aus, auch unsere Stadt Stuttgart. Verdinglicht, entleert, entzaubert, ort- und bilderlos. Gegen die Fortsetzung dieser Entwicklung, dieses „Denkens“. gegen die radikale Wandlung, Ver- und Entfremdung ihrer Welt, gegen die Betrachtung ihrer Stadt als funktionierende Maschine, revoltieren die Menschen. Darauf lassen sie sich nicht (mehr) reduzieren. Sie wollen in einer, in ihrer Stadt leben, voller Erinnerung, Gedächtnis, Atmosphäre, nicht in einer halbierten Welt.
Heiner Geißler ist, angesichts einer Situation, die die Griechen Dilemma nannten, nicht zu beneiden. Wie wird der Schlichterspruch lauten?
Die bisherige Schlichtung behandelte nur die eine Hälfte, die der halbierten Welt der starken, quantitativen Kräfte. Novalis’ Welt der „Zahlen und Figuren, das ganze verkehrte Wesen.“ Konsequenter- und ehrlicherweise müsste sie umbenannt werden in „Halbierte Schlichtung“. Verbleibt also eine zweite Schlichtung zu empfehlen. Um die bisher vernachlässigte, andere Hälfte, die Welt der weichen, qualitativen Kräfte zu behandeln, Lebendiges zu Wort kommen zu lassen. Denn Dichter raten uns: „Zahlen/Daten sind weniger als Eins, Lebendiges ist mehr als Eins, immer ist’s ein Vieles“.
Oder…….
?