Chancen und Risiken beim Großprojekt Stuttgart 21

23.10.13: S21 - Kosten bis zu 10 Mrd € - das ist die Schlussfolgerung der Ingenieure22 nach Auswertung der von der DB geheim gehaltenen, aber jetzt doch raus gekommenen sog. Azer-Liste. Am 23. Oktober 2013 wurde in einer Pressekonferenz die Azer-Liste vorgestellt und kommentiert.


27.11.2015:
Die Stuttgarter Zeitung berichtet heute: Bahn veröffentlicht S-21-Riskoliste. In zwei Wochen (10. Dezember) ist in Berlin ein Gerichtstermin.


Aktuelle INFOs bei
http://netzwerke-21.de/?p=13157 (30.11.15)

Hier ist nun die offiziell herausgerückte Liste.

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30. Juli 2013 rev. / Hans Heydemann
„ CHANCEN und RISIKEN beim GROSSPROJEKT STUTTGART 21“ – eine WERTUNG
Die DB ProjektBau GmbH hatte Anfang 2011 für das Vorhaben „Großprojekt Stuttgart 21 - Wendlingen- Ulm“ die Chancen und Risiken bei den Baukosten sowie den Terminen zusammengestellt und kostenmäßig bewertet. Diese als „Liste der 121 Risiken“ bekanntgewordene Zusammenstellung war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt; die Herausgabe wurde mit dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse stets verweigert; auch den Projektpartnern, insbesondere dem Ministerium für Verkehr und Infrastruktur MVI des Landes Baden-Württemberg, wurde diese trotz mehrfacher Anforderung bis heute vorenthalten! Lediglich der Zeitschrift „STERN“ war ein Zugang zu dieser Liste gelungen; sie hatte2011 einen Auszug (34 Seiten) daraus veröffentlicht, die Weitergabe der gesamten Liste aber mit dem Hinweis auf Rechtsfragen abgelehnt.
Jetzt liegt diese „Liste der 121 Risiken“ vollständig vor und wird nachfolgend bewertet.
Warum aber diese Geheimnistuerei der Bahn AG, ging und geht es doch um öffentliche Belange, über die jeder Bescheid wissen sollte, nicht zuletzt auch als Entscheidungsgrundlage für die Volksabstimmung vom 27.11.2011? Und hatte die Bahn nicht immer wieder „volle Transparenz“ zugesichert? Die Antwort liegt auf der Hand: Diese „Liste der 121 Risiken“ ist gleichermaßen Beweis sowohl für den ungeheuerlichen Kosten-Betrug der Bahn gegenüber der Öffentlichkeit als auch ihrer Unfähigkeit, dieses Großvorhaben Stuttgart21 ordnungsgemäß umzusetzen!
Zum KOSTENBETRUG: In dieser „Liste der 121 Risiken“, Erstelldatum 25.3.2011, d.h. vier Monate nach der sogen. „Schlichtung“ und acht Monate vor der Volksabstimmung am 27.11.2011 über das „Ausstiegsgesetz“, sind bei einem Teil der aufgeführten Risiken auch Mehrkostenangaben enthalten; allein diese belaufen sich auf insgsamt 1,253 Milliarden €! Bei knapp 2/3 der aufgelisteten Risiken hat die Bahn jedoch gar keine Kosten angegeben mit der Begründung, die Eintrittswahrscheinlichkeit hierfür liege unter 49 %! Das ist indessen wirklichkeitsfremd; eine grobe Abschätzung ergibt insgesamt etwa 2,91 Milliarden €. Also hat die Bahn bereits bei der Schlichtung im November 2010, als ihr dies im wesentlichen schon bekannt sein mußte, wider besseres Wissen die von den Kritikern vorgebrachten Zweifel an den Kosten abgestritten und somit vorsätzlich öffentlich die Unwahrheit behauptet!
Dabei hatte doch Bahnchef Grube als „ehrlicher hanseatischer Kaufmann“ bei Verkündung der Gesamtkosten von 4,19 Milliarden € im Sommer 2010 erklärt, bei Kosten jenseits von 4,75 Milliarden € „die Reißleine zu ziehen“, dann wäre das Vorhaben unwirtschaftlich und würde nicht weiterverfolgt!
Erst recht gilt dies für die Volksabstimmung im November 2011, in deren Vorfeld die Bahn stets beteuert hatte, das Vorhaben S-21 sei solide finanziert; der Kostendeckel des Finanzierungsvertrages mit 4,526 Milliarden € werde eingehalten und enthalte noch über 390 Millionen € Reserve als Risikopuffer.
Diese von der Bahn Anfang 2011 selber ermittelten Mehrkosten von 1,253 Milliarden € entsprechen in etwa den 1,1 Milliarden €, die DB-Technik-Vorstand Volker Kefer schließlich am 12. Dezember letzten Jahres als von der Bahn zu tragende Kostenmehrungen öffentlich eingeräumt hatte – ein Jahr nach der Volksabstimmung! An weiteren Mehrkosten von 1,2 Milliarden € sollen sich die Projektpartner beteiligen.
Wie diese Liste der Chancen und Risiken v. 25.3.2011 nun unwiderlegbar beweist, wußte die Bahn
damals sehr wohl, daß dies nicht zutraf, und hatte die von ihr selbst ermittelten Mehrkosten von
1,253 Milliarden € arglistig verschwiegen! Wäre dies - wie ehrlicherweise geboten - vor der
Volksabstimmung bekannt gewesen, wäre diese mit Sicherheit anders ausgegangen!
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Damit hat die Bahn nun insgesamt-Mehrkosten in Höhe von 2,3 Milliarden € eingestandenen
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– von denen sie schon zwei Jahre zuvor gewußt, diese dennoch entschieden abgestritten und damit
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vorsätzlich die Öffentlichkeit in unerhörter Weise getäuscht hatte!
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Jedoch ist mit weiteren Kostensteigerungen über die inzwischen eingeräumten 2,3 Milliarden € an Mehrkosten hinaus bis zu Gesamtkosten von 8,5 bis 10 Mia. € und mehr zu rechnen, wenn alle heute absehbaren Risiken und notwendigen Maßnahmen berücksichtigt werden.
Zugleich ist diese Liste aber auch Beweis der Unfähigkeit der Bahn, das Großvorhaben Stuttgart21 ordnungsgemäß umsetzen zu können, stellt diese doch eine beispiellose Ansammlung von Planungsfehlern, Planungs- und Abstimmungsmängeln, Unzulänglichkeiten und nicht berücksichtigter, aber notwendiger Maßnahmen dar.
Beispielhaft seien hier solche selbstverständlichen eisenbahn-technischen Ausrüstungen wie Signalisierung, Blockteilung und GSM-R-Einrichtungen sowie Fahrkarten-Automaten (Nr. 109, 110, 29) genannt, die in der Kosten-Planung überhaupt nicht berücksichtigt waren! Peinlich für die Deutsche Bahn AG ist weiterhin die hierin offenbar werdende mangelhafte Abstimmung zwischen der DB Projektbau und den beteiligten DB-Konzerntöchtern DB Netz, DB St&S und DBI und deren unzureichende Mitwirkung an der Planung (Nr. 1, 2, 31, 46, 74, 75)!
(Nr. 105).
Der Vorschlag der DB St&S für einem Geothermie-Einsatz zur Wärme-Versorgung des Bonatzbaues mit Erdwärme (Nr.69) ist nicht nur ein finanzielles Risiko. Tiefen-Geothermie mit Bohrungen durch die Mineralwasser führenden Schichten scheidet aus. Oberflächennahe Erdwärmenutzung mit Wärme- pumpen ist wenig effektiv, das Wärmeplus erfordert den Verbrauch teurer elektrischer Energie. Die bisher genutzte Fernwärme aus der Kraft-Wärme-Koppelung wäre auch weiterhin die sinnvollste Lösung.
Lediglich bei 45 % der Risiken, die durch den Bau der 62 km langen Zulauftunnel in geologisch schwierigstem Untergrund bedingt sind, hat die Bahn überhaupt Kosten angegeben; den übrigen wurde eine Eintrittswahrscheinlichkeit unter 49 % zugeordnet und deshalb ohne Kosten ausgewiesen. Die „Erschwernisse bei Anhydrit“, einer bei Wasserzutritt aufquellenden, sehr problematischen Gesteinsart, durch die alle Tunnel auf großen Abschnitten verlaufen sollen, wurden ebenfalls mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit unter 49 % angesetzt und hierfür keine Kosten angegeben (Nr. 15).
Völlig unverständlich ist, daß die Bahn zum Brandschutz der Bahnhofshalle zwar feststellt (Nr. 25): “Abweichend vom Entwurf wird vom fachtechnischen Dienst der DB St&S anstatt Brandschutzklasse F0 Brandschutzklasse F30 gefordert. Die Forderung hat Auswirkungen auf Planung und Bauausführung der Konstruktion.“ und hierfür auch eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 99 % ansetzt, aber keine Kosten angibt. Der Bahn war also spätestens Anfang 2011 klar, daß der Brandschutz im S-21-Tiefbahnhof völlig unzureichend ist, hat dazu jedoch geschwiegen und weiter nichts unternommen, bis dieser erhebliche Mangel dann im Herbst 2012, fast zwei Jahre später, vom Brandschutzgutachter GRUNER AG / Basel mit Schreiben v. 20.9.2012 gerügt wurde. Vorangegangene Hinweise von Kritikern über den unzureichenden Brandschutz blieben von der Bahn unbeachtet und wurden vom Eisenbahn-Bundesamt als Aufsichts- Behörde damit weggewischt, dies sei Sache der späteren Ausführungsplanung. (BER läßt grüßen!)
Kernpunkt ist jedoch das in dieser „Liste der 121 Risiken“ dokumentierte Eingeständnis der Bahn, daß die 2009 von Bahn-Vorstand Grube öffentlich verkündeten Kosten-Einsparungen gar nicht erreichbar seien, s. nachstehende Zusammenstellung Nr. 3 „ Nicht erreichbare Kosten-Einsparungen GWU“, von denen allerdings auch nur gut die Hälfte der festgestellten Risiken mit Kostenangaben versehen ist. Allein diese ergeben in der Summe bereits Mehrkosten von rd. 639 Mio. €. Bei Einbeziehen der nicht mit Kosten bewerteten Risiken aufgrund nicht erreichbarer Kosten-Einsparungen ist insgesamt mit Mehrkosten von rd. 1,28 Milliarden € zu rechnen. Bahnchef Grube hatte Ende 2009 bekanntlich die Kosten von 4,9 Mia. € auf 4,19 Mia. € heruntergerechnet und dies mit „Einsparpotentialen“ begründet.
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Auch wird der Mitarbeiter-Mangel der DB Projektbau offenbart: „Verzögerte Anpassung des Personal-
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Bestandes an den Projektfortschritt in Folge fehlender Verfügbarkeit qualifizierter Mitarbeiter“
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Als „Nicht realisierte Optimierungs-/Einsparpotentiale“ aufgrund der Markt- und Vergabepreise sind nunmehr in der DB-Liste „Chancen und Risiken“ u.a. folgende aufgeführt:
- Nr. 09: Baustellen-Einrichtung; Leitungsverlegung PFA 1.5 : - Nr. 11: Maschineller Tunnelvortrieb PFA 1.6: kein Angebot: - Nr. 13: Nichtbestätigung ETA-Leistungen / Mehrkosten GWU 2009 gegenüber 2004: - Nr. 40: Baustellen-Einrichtung PFA 1.3: (Kalkulation Auftragnehmer): - Nr. 56: Oberbau mehrere PFA (Kalkulation Auftragnehmer): - Nr. 57: Reduzierung Quelldruck auf 2,0 MPA (PFA 1.2, 1.6) - Nr. 58: Ausbruch PFA 1.2, 1.6 (Kalkulation Auftragnehmer):
30 Mio. € 21 Mio. € 45 Mio. €
130 Mio. € 74 Mio. € 100 Mio. € 147 Mio. €
u.a.m. Widerlegt ist auch die Behauptung der Bahn, es seien Festpreise vereinbart und damit künftige Kosten- Steigerungen ausgeschlossen. So haben ausführende Unternehmen schon bis März 2011 Nachträge über insgesamt 132 Millionen € vorgelegt, obwohl bis dahin kaum etwas ausgeführt worden war, s. hierzu die Zusammenstellung Nr. 4 „ Nicht eingehaltene Festpreise, Nachträge ausführender Unternehmen“. Es muß mit weiteren Nachträgen gerechnet werden, die durchaus die Milliardengrenze übersteigen können! Weitere Risiko-Kostengruppen sind Mehrkosten wegen unzureichender Planung, Planungs- und Abstimmungsmängel, wegen Bauzeit-Verlängerung, ungeklärter Finanzierung, Mehrkosten Grunderwerb sowie aus Umwelt-Auflagen, die nachfolgend im einzelnen dargestellt sind.
Als großer Bluff erweist sich selbst die Bezeichnung „Chancen und Risiken“: Die Liste enthält lediglich eine einzige „Chance“, nämlich den „Entfall der Kunststoff-Dichtbahn (KDB)“ im PFA 1.5 mit einer möglichen Kosteneinsparung von 5,897 Mio. € (Nr. 47), mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit unter 49 % - die Bahn glaubt also selber nicht daran, diese einzige ausgewiesene „Chance“ nutzen zu können!
Frühere Behauptungen der Bahnchefs Grube und Kefer sowie vieler Politiker, Stuttgart21 sei das bestgeplante Vorhaben aller Zeiten, sind damit endgültig widerlegt.
Die einzelnen Risiken der DB-Liste „Chancen und Risiken“ v. 25.3.2011 sind dort auf 4 Abschnitte (Cluster A, B, C u. D) nach angesetzter Eintrittswahrscheinlichkeit (<49 %; > 50 %) sowie mit oder ohne monetäre Bewertung verteilt; bei Eintrittswahrscheinlichkeiten <49 % ist keine monetäre Bewertung vorgesehen; denn diese sind gegenüber dem Aufsichtsrat nicht meldepflichtig. Die DB läßt diese Kosten unter den Tisch fallen, obschon die Mehrkosten unabweisbar sind. Deren Einbeziehung ergibt jedoch erhebliche Mehrkosten für das Gesamtvorhaben. Diese Vorgehensweise der Bahn blendet wesentliche Kostenrisiken vollständig aus, was so nicht sachgerecht ist und die Gesamtrisiko-Kosten nicht abgedeckt werden. Die Bahn hat dabei gegen ihr eigenes Regelwerk verstoßen.
Die Bahn erklärt jetzt, diese „Liste der Chancen und Risiken“ v. 25.3.2011 entspräche nicht mehr dem heutigen Stand und sei durch das sogen. „6-Punkte-Programm“ ersetzt, welches auch Grundlage der Genehmigung der Mehrkosten durch den Aufsichtsrat der DB am 5.3.2013 war. Bei näherer Betrachtung des „6-Punkte-Programms“ zeigt sich, daß dieses sehr wohl von eben dieser „Liste der Chancen und Risiken“ abgeleitet ist, indem die einzelnen Risiken den Kostenblöcken des „6 Punkte-Programms“ zugeordnet worden sind. Die 2011 erfaßten Risiken sind schließlich nicht einfach verschwunden. Dabei ist es unerheblich, wenn einzelne Kosten und Bezeichnungen „angepaßt“ wurden und nicht mehr einzeln aufgeführt werden. Dadurch aber wird die Nachvollziehbarkeit für Außenstehende so gut wie unmöglich. Dies beklagt sogar der mit der „Plausibilitätsprüfung“ beauftragte Wirtschaftsprüfer Pricewaterhouse Coopers. Aus dessen Prüfbericht geht hervor, dass sich sein Gutachten lediglich "auf die von der DB AG zur Verfügung gestellten Unterlagen" stützt. Ob die Angaben richtig oder vollständig sind, wurde dabei nicht überprüft. Die Prüfer selbst sehen deshalb ein "höheres Risiko", dass "wesentliche Fehler" und "rechtswidrige Handlungen" nicht aufgedeckt worden seien. Wie aussagekräftig ist aber ein Testat, das komplett von Dokumenten des zu überprüfenden Unternehmens abhängt und dem die Prüfer selbst nicht ganz trauen? ́[Zitat aus der „Zeit.online“ v. 24.7.2013]
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ANHANG
Anmerkung: Die lfd. Nr. entspricht der fortlaufenden Reihenfolge-Nr. der in der DB-Liste „Chancen und Risiken“ v. 25.3.2011 aufgelisteten 121 Einzelfälle. Für die von der DB nicht mit Kosten versehenen Risiken sind angemessene Kosten-Ansätze gebildet und jeweils in der rechten Spalte als „erwartet“ ausgewiesen.
1. TUNNELBAU, UNTERGRUND
Erhebliche Kosten-Risiken sieht die Bahn in den Unsicherheiten, die sich aus den Unwägbarkeiten des Untergrundes und dadurch bedingte Kostensteigerungen beim Tunnelbau ergeben, und zwar in allen Plan-Abschnitten. Jedoch bewertet die Bahn diese nur zum Teil, und zwar in Bezug auf die Vortriebs- klassen-Verteilung sowie die Lastannahmen. Hingegen bleiben Erschwernisse bei Anhydrit, Baugrund- Risiko, Setzungsschäden usw. unberücksichtigt.