Roland Ostertag (1931-2018) Ein Leben für die Architektur
Der Architekt Roland Ostertag ist am 11. Mai 2018 in Stuttgart im Alter von 87 Jahren gestorben. Er wurde am 19. Februar 1931 in Ludwigsburg geboren. Von 1951-1956 studierte er Architektur an der Technischen Hochschule Stuttgart und machte sich 1957 als Architekt selbständig. 1958-1966 war er Dozent am Lehrstuhl von Professur Gutbrod für Entwerfen. 1970-1997 lehrte er als Professor am Institut für Gebäudelehre, Entwerfen, Entwicklung der modernen Architektur an der Technischen Universität Braunschweig. Er hatte ab 1983 eine Bürogemeinschaft mit Johannes Vornholt. Er war Präsident der Bundesarchitektenkammer von 1993-1996. 1990 gründete er das Architekturforum Dresden und war ab 1995 Mitglied des Präsidiums der Baufachmesse Leipzig und danach bis 2000 Mitglied des Kuratoriums der Internationalen Bauausstellung Emscher-Park. Nach seiner Emeritierung 1996 kam er in den Vorstand der Stiftung Architekturforum Baden-Württemberg. Er hat seit 1956 über 120 Preise gewonnen und viele Auszeichnungen bei nationalen und internationalen Wettbewerben und für Gutachten erhalten. 1987 erhielt er den Deutschen Architekturpreis. Am 14. September 2015 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen.
Zu seinen Bauwerken gehören u.a. die Wirtschaftsoberschule in Reutlingen, Rathaus Kaiserslautern, Rathaus Bissingen, Landratsamt Backnang, Rathaus Bad Friedrichshall. Rathaus Frickenhausen, Rathaus Schönaich, Berufsbildungswerk Waiblingen der Diakonie Stetten, Sozialamt der Deutschen Bundespost in Stuttgart.
Neben seinen Aktivitäten als Architekt hat er sich politisch engagiert. Die Motivation dafür lag in seiner Erinnerung daran, wie er einmal schrieb: „dass ich den Krieg noch bewusst erlebte, der die Architektur in seine Ausgangsmaterialien verwandelte, Stuttgart in Trümmern, Berge von Toten auf den Straßen.“ In den 50er Jahren unterstützte er gemeinsam mit Erhard Eppler und Johannes Rau Gustav Heinemanns und Martin Niemöllers Kampf gegen die Wiederbewaffnung und die allgemeine Wehrpflicht. 2003 wandte er sich vehement gegen den Irak-Krieg und sammelte Tausende von Unterschriften für die Stuttgarter Erklärung. Anfang der 90er Jahre wandte er sich gegen den Krieg in Bosnien und besuchte mit Studenten Sarajewo, um den Wiederaufbau zu unterstützen.
Sanierungen und Umbauten wie das Alte Schauspielhaus, das Steuerberaterhaus und die Rettung des Bosch-Areals gehören zu seinem beeindruckenden Vermächtnis. Dazu zählte auch sein Engagement seit 2004 als Vorsitzender des Vereins Zeichen der Erinnerung. Nach über 60 Jahren erreichte er es, dass die noch vorhandenen Spuren (Schienen, Prellböcke, Schotter) im Nordbahnhof, von wo Tausende Württemberger Juden, sowie Sinti und Roma, 1941 bis 1945 in die KZs, den sicheren Tod deportiert wurden, zu der Gedenkstätte Zeichen der Erinnerung umgestaltet wurden.
Als Vorstand der der Stiftung Architekturforum Baden-Württemberg setzte er sich mit seinen Beiträgen für eine behutsame, geschichtsbewusste, nachhaltige, menschenfreundliche Stadtplanung ein und inszenierte viele Veranstaltungen, hauptsächlich im Stuttgarter Literaturhaus.
„Die Weißenhof-Siedlung Stuttgart war und ist weltweit ein historisches Ereignis und Ergebnis“, stellte er in einem Aufsatz fest und als im März 2004 die Bundesvermögensverwaltung an die 16 Mieter von Wohnungen der Weißenhof-Siedlung herantrat mit der Absicht diese zu verkaufen, stand Ostertag an der Spitze des Widerstands. Am 20. April 2004 fand im Literaturhaus eine Veranstaltung der Stiftung Architekturforum Baden-Württemberg mit dem Thema „Weißenhof am Ende?“ statt. Danach waren die Verkaufsabsichten des Bundes „vom Tisch“.
2006 zog er in sein neues Büro am Gähkopf, dem früheren Wohnhaus von Otto Borst. Hier steht ein großartiges Modell der Stadt Stuttgart, das das Glanzstück seiner Ausstellung ist, die er bis Ende 2017 ständig gepflegt und weiter ausgebaut hat. Die Erweiterung der Ausstellung ging Hand in Hand mit seinen Veröffentlichungen zu vielen Themen der Stadt. Diese Ausstellung von Roland Ostertag ist keineswegs nur eine Sammlung von Dokumenten. Sie dokumentiert, wie hier einer über zwanzig Jahre lang die Entwicklung der Stadt Stuttgart beobachtet und immer wieder Alternativen entwickelt und sich leidenschaftlich immer sofort einmischt, wenn er auch nur ein bisschen Hoffnung hat, den Gang der Dinge beeinflussen zu können. Unsere vielen Arbeitstreffen in seinem Büro im Gähkopf wurden zu einem Studium der Stadtarchitektur. Fotos für seine Bücher, seine Texte waren unsere Gesprächsthemen Nebenbei führte er eine umfangreiche Korrespondenz, um für die Unterstützung seiner Projekte zu werben.
1999 trug er entscheidend dazu bei, das vom Abriss bedrohte Bosch-Areal zu retten und bewies mit seiner Sanierung, wie erfolgreich das historische so bedeutsame Ensemble neuen Verwendungen zugeführt werden konnte. Blickt man heute von der oberen Etage des neuen Institut Français auf die Häuserzeile des Bosch-Areals, sieht man auch den von Ostertag neu gestalteten Berliner Platz.
Roland Ostertag schrieb einmal, „Mein Motto: Nichts verschweigen, nicht schweigen, nicht wegschauen, sich einmischen, einbringen, Alternativen aufzeigen.“
Stuttgart 21 war für ihn immer Das Milliardengrab, so der Titel seines Buches von 2008, das er als ein Plädoyer gegen die Stadtzerstörung verstanden wissen wollte (Stuttgart: Peter-Grohmann-Verlag 2008). Die Ruine des Neuen Lusthauses im Schlossgarten wurde immer baufälliger. Ostertag gründete einen Verein und fand die Mittel, um die Ruine zu sichern. Als das Hotel Silber in Bedrängnis geriet, gründete er einen Verein und veröffentlichte das Buch Tatort der Stuttgarter Geschichte. Der Fall Silber. Ein Skandal (Stuttgart: Peter-Grohmann-Verlag 2014).
Später beschrieb er in seinen Publikationen das Thema Wasser oder die Mobilität in Stuttgart. 2016 erschien sein Band Stuttgart – Zauber der Topographie und das Elend der Stadtplanung (Stuttgart: Peter-Grohmann-Verlag).
Mit seinem so profunden Wissen über Städtebau und Stadtplanung verband er die Ergebnisse seiner Beobachtungen der Stadtentwicklung Stuttgarts von heute. Nein, nachsichtig war er selten, zu groß erschienen ihm die Versäumnisse in dieser Stadt. Ihre Geschichte hatten die Stadtplaner vergessen und ein von ihm geführter Spaziergang durch A1 war ein großer Höhepunkt. Oder der Spaziergang rund ums Rathaus, bei dem er berichten konnte, wie das Quartier um das Rathaus sich nach dem Krieg entwickelt hatte. Und welche Fehlentwicklungen man heute vermeiden sollte.
Was trieb Roland Ostertag an? Sein Fachwissen, seine Leidenschaft für die Architektur allemal. Aber vor allem seine unerschütterliche Grundüberzeugung, dass Architektur und Stadtplanung den Bewohnern der Stadt zu dienen habe. Seine Denkschrift Der Stadtboden gehört allen. Gedanken zu einer städtebaulichen Entwicklung der Stadt zum Um- und Zurückbau der Hauptstätterstraße, diese Barriere, die die Stadtteile voneinander trennt, die er 2007 zusammen mit Gunter Kölz vorgelegt hat, ist ein Beispiel für sein Engagement dazu beizutragen, die markantesten Fehler der Verkehrsplanung in Stuttgart zu revidieren.
Sein eben erschienenes Buch Stadt ohne Geschichte. Stadtplanung im kritischen Rückblick (Stuttgart: Peter-Grohmann-Verlag 2018) dokumentiert vielleicht am besten von all seinen Büchern, mit welcher Leidenschaft Roland Ostertag sich für unsere Stadt engagierte. In diesem Band zitiert er auch Texte anderer Autoren, deren Positionen ihm für die Grundlagen moderner Stadtplanung wichtig waren.
Aufenthaltsqualität auf Plätzen, was sagt ein Gebäude zu dem anderen? Städte sind Lesebücher, das Schwinden des Ortes, Denkmäler: denk mal nach, das sind nur einige seiner Ausdrücke, mit denen Roland Ostertag immer wieder prägnant auf Versäumnisse der Stuttgarter Stadtplanung hinwies. Diese Stimme des Mahners mit seiner grundsätzlichen Überzeugungen, dass Stadtplanung die Entwicklung der Stadt und ihre Geschichte zu berücksichtigen habe, wird uns in Stuttgart sehr fehlen.
Heiner Wittmann
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ANMERKUNGEN ZU STUTTGART 21
Die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 drehen sich seit 1994 fast ausschließlich um quantitative Aspekte, um Fakten. Primär, wie kann es in unserer Gesellschaft anders sein, um die Kosten, die von der Bahn den Projektpartnern, der Öffentlichkeit, den Bürgerinnen und Bürgern seit Beginn des Projekts viel zu niedrig, “politisch motiviert, geschönt“ angegeben wurden. Diskutiert werden nur weitere quantitative Aspekte wie Termine, Leistungsfähigkeit, Fluchtmöglichkeit, Brandschutz, Quer-/sonstiges Gefälle, Grund- und Mineralwasser, Betriebs- und Sicherheitsprobleme, Barrierefreiheit, Fahrtzeitverkürzung, Machbarkeit. Die Auseinandersetzungen hierüber werden logischerweise Faktencheck, Stresstest bezeichnet.
Um der Sache willen hätten sich die Diskussionen und Auseinandersetzungen jedoch von Anfang an nicht, mindestens nicht primär, nur um diese quantitativen Sachverhalte/Aspekte drehen/handeln dürfen. Die qualitativen Werte/Aspekte hätten im Vordergrund stehen müssen, denn der Patient ist die Stadt und ihre Menschen. Über den Gesamtorganismus Stadt fand nie eine Grundsatz-Diskussion statt, die Stadt existiert bei Befürwortern und Gegnern nicht.
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Einspruch Herr Ostertag! Für mich als Gegner war immer der Hauptgrund die Lebensqualität am Beispiel des stadtprägenden Bonatzbahnhofs und des historischen Schlossgartens, dazu die optische Stadtvernichtung für die Bahnreisenden, wie es die Hölderlin-Parodie von MetropoliS21 von 2008 beklagt. Auch das Mineralwasser ist ein vorwiegend qualitativer Aspekt.
So empfinden es viele „Gegner“, die bis heute hartnäckig protestieren und demonstrieren.
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Jahrzehntausende benötigte die Natur für die Ausräumung und Bildung dieser Landschaftsschüssel, ihrer Öffnung, durch die die geistige und klimatische Be- und Entlüftung der Stadt stattfindet, die Welt in die Stuttgarter Welt herein geholt wird. Was in Tausenden von Jahren geworden ist, soll nun in wenigen Jahren zerstört werden.
Stuttgart würde mit der Realisierung von S-21 eine vierte Zerstörung erleben. Durch die diesem Projekt zugrunde liegende Funktionalismusideologie, die nur quantitative Aspekte kennt, den Fortschritt nach Minuten zählt, die Stadt als funktionierende Maschine, die Menschen als abzufertigende, als zu befördernde Ware betrachtet, wird das begehbare, das historische Gedächtnis der Stadt missachtet und zerstört. Es würde eine ortlose, unterirdische, entleerte, geschichts- und gesichtslose, entzauberte Welt entstehen, ihren kulturellen, ihren Stuttgart-spezifischen Wert und Charakter verlieren. Mit den Orten wird den Menschen das Gedächtnis, ihre Erinnerung, ihre Geschichte, ihre Heimat, ihr Zuhause geraubt. Selbstzerstörung, städtebaulicher, kultureller Kannibalismus.
Es gibt ein Bürgerrecht auf Geschichte. Ein gigantischer, nicht wieder gut zu machender Schwabenstreich, den sich eindimensionale Politiker, Planer und Techniker des Bundes, der Bahn, des Landes, der Stadt ausgedacht haben.
Warum wehren sich die Verantwortlichen, auf Seiten der Befürworter und Gegner nicht vehement dagegen? Sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse? Offensichtlich sind Befürworter und Gegner gleichermaßen Teil davon.
Roland Ostertag, 27.02.2013
MetropoliS21
(Parodie nach Hölderlin)
Ihr wandelt droben im Licht,
Auf Halbhöhenlagen,
Stadtplaner, Aktionäre, Investoren!
Frisch umsäuseln euch Lüfte leicht,
In Doppelgaragen Mercedes und Smart.
Doch uns ist gegeben
An keiner Stätte zu ruhn,
Es fahren tief unten die einfachen Menschen
Wie Rohrpost von Bahnhof zu Bahnhof geworfen,
atmen Tunnelluft in tiefer Station.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es unten ist, die Aussicht, und wo
Den Sonnenschein?
Betonwände stehn
Sprachlos und kalt.
Mein Stuttgart - wohin denn du?
(2008)
Prof.Roland Ostertag,Gähkopf 3, 70192 Stuttgart,Tel.0711/605337,Fax. 6o74243,e-mail:roland-ostertag@gmx.de
04. 01.2016
Die halbierte, die entzauberte Welt / Stadt,
Eine neue Schlichtung.
Zu Zahlen und Daten
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Schlüssel aller Kreaturen
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden schaffen
Und man in Gedanken und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort
Novalis(Friedrich von Hardenberg)
Von Halbierung, von halbierten, halben Sachen wird zunehmend gesprochen. Dann, wenn ursprüngliche Gesamtheiten, Ganzheiten, Spaltung, Trennung, Auseinanderdriften droht oder schon eingetreten ist. Gemeint ist nicht die exakte numerische, die 50 Prozent-Halbierung, sondern das grundsätzliche Auseinanderbrechen von Zusammengehörigem.
die halbierte Welt steht für ihre Spaltung in einen reichen und einen armen Teil,
die halbierte Gesellschaft steht für die zunehmende soziale Spaltung unserer Gesellschaft,
die halbierte Stadt steht für ihre Trennung in unterschiedliche räumliche und soziale Teile.
die halbierte Moderne, steht für die „klassische Moderne“ oder was von ihr übrig geblieben ist, und dem Teil, der sich von ihr verabschiedet/ emanzipiert hat, eine neue Moderne sucht,
das halbierte Europa steht für die drohende Spaltung in arme, gefährdete Nationen wie Griechenland, Irland, bald Portugal und den reichen, scheinbar nicht gefährdeten Nationen,
die halbierte Zeit steht für das Auseinanderklaffen von gemessener und erlebter Zeit
Auch unsere Stadt wird von dieser Halbierung nicht verschont. Sicht- und wahrnehmbar bei der laufenden Schlichtung zwischen Befürwortern und Gegnern des Bahnprojekts Stuttgart 21 unter der Regie von Heiner Geißler. “Alle Fakten müssen auf den Tisch“, „eine Fach- schlichtung, ein Fakten-Check“ soll es sein. Unsere Gesellschaft, unsere Städte, sind starken, quantitativen und weichen, qualitativen Kräften ausgesetzt. An dieser Halbierung, dem Primat der Technik, der Wirtschaftlichkeit, dem Ökonomismus, der Machbarkeit orientiert sich die Themenliste der Schlichtung. Rasch einigten sich die beiden Seiten, welche Themen darunter verstanden und behandelt werden sollen: Im Vordergrund die starken, quantitativen Kräfte: die bahnverkehrlich-strategische Bedeutung, die verkehrliche Leistungsfähigkeit des Projekts, Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, Nutzen, Geologie, Ökologie/Städtebau, Kosten, Wirtschaftlichkeit. Bei einem Faktencheck muss selbstverständ- lich alles quantifizier-, messbar sein, Daten und Zahlen, Hektar, EURO, sec, qm, Statistiken, Tabellen. Gemessen werden: Geschwindigkeit, Tempo, Züge, Menschen, Schienen, Gleise, Fahrzeitverkürzung, Machbarkeit. Unüberhörbar das 19.Jahrhundert:höher, weiter, schneller.
In der jahrelangen Auseinandersetzung zwischen S 21 und K 21 spielten fast nur diese „Fakten“ eine Rolle. Exaktes Abbild des Wertsystems, des Weltbilds unserer Gesellschaft. Stuttgart 21, sein Leitbild, unterliegt dem Diktat dieser „Fakten“. Selbst K 21, auch die Schlichtung als Teil dieser Gesellschaft kann offensichtlich diesem Diktat nicht entgehen.
Die Stadt wird betrachtet als funktionierende Maschine, die Menschen als zu befördernde Ware, der Bahnhof als Abfertigungsanlage. Arm, kalt, namen-/geistlos.
Mit einer derartigen Themenliste kann man in unserer effizienz- und vermarktungs- versessenen Welt Maschinen, Autos checken, bewerten. Damit lassen sich Qualitäten von Städten/ Lebenswelten, von städtischen (Groß-) Projekten nicht erfassen, bewerten. Auch nicht in Geißlers „Schlichtung“. Fakten, Faktencheck genügen nicht.
Diese Welt dieser Fakten ist nur die eine Seite, ist die halbierte, die entzauberte Welt, Stadt.
Die genannten und andere quantitative Faktoren/Fakten sind sicher wichtig, doch der andere Teil der „halbierten Welt/Stadt“, die qualitativen, die nicht messbaren, nicht mit Zahlen und Daten fassbaren Faktoren, die „weichen Kräfte“ sind mindestens ebenso wichtig, langfristig die wichtigeren. Unsere Lebensführung bringt es mit sich, dass die eine quantitative Hälfte zunehmend an Bedeutung gewinnt, während die andere qualitative vernachlässigt, verges- sen wird, bestenfalls in Randzonen abgedrängt wird, dort sich wieder findet.
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Das andere Leitbild der weichen, der qualitativen Kräfte beinhaltet nicht nur die städtebaulichen Aspekte im engeren Sinne, es umfasst die stadtplanerischen, die räumlichen, die sozialen, die kulturellen, die historischen, die atmosphärischen, die emotionalen, die menschlichen Aspekte, die Themen Denkmalschutz, Nutzung, geistig-räumliche Mobilität/Vitalität, Gedächtnis der Stadt, (Bewusstseins-)Landschaft, Zukunfts-Perspektive. Bis hin zu den Fragen nach der Bedeutung, nach dem Sinn der Dinge, der Stadt, der Welt, dessen was wir denken und tun.
Städte sind, Stuttgart ist Ergebnis einer langen Entwicklung, kein Ort primitiver „Bedürfnis- befriedigung“, ist „begehbares Gedächtnis“, bestehend aus Schichten seiner Ge-Schichte, die seinen Charakter, seine Persönlichkeit formen. Aufgefordert sind wir darauf eine neue Schicht der Geschichte aufzubringen. Um dies zu können, gilt es, aus den Zügen der Städte ihre Herkunft, ihr Grundgesetz zu erkennen, um sie weiter entwickeln zu können.
Stuttgart 21 bedeutet radikalen Austausch, radikale quantitative Änderungen, die geeignet sind den Charakter, die Persönlichkeit der Stadt massiv zu bedrängen. Dabei wird gegen das Gesetz der Reversibilität der kleinen Schritte/Fehler verstoßen, indem irreversible große Schritte/Fehler gemacht werden.
Der Alternative, K 21, liegt die Strategie der kleinen, stufenweisen Schritte in die richtige Richtung zugrunde, will keinen radikalen Austausch, ist für behutsame qualitative Änderungen. K 21 will auf die vorhandenen Schichten der Geschichte eine neue Schicht der Geschichte aufbringen, behutsam, schrittweise. Die Stadt wird gedacht und gemacht als Stadt von heute für die Menschen von heute.
Aus unserem städtischen Erbe, unserem „begehbaren Gedächtnis“ schöpfen die Menschen ihre Erinnerung, altdeutsch mit Heimat, neudeutsch mit Identität bezeichnet. Dort suchen sie Übereinstimmung mit sich selbst, als Person, als Kollektiv. In diesen Werten und Kräften suchen die Menschen Halt in unserer kalten Welt.
Der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung. Entsprechend sehen unsere Städte und Landschaften aus, auch unsere Stadt Stuttgart. Verdinglicht, entleert, entzaubert, ort- und bilderlos. Gegen die Fortsetzung dieser Entwicklung, dieses „Denkens“. gegen die radikale Wandlung, Ver- und Entfremdung ihrer Welt, gegen die Betrachtung ihrer Stadt als funktionierende Maschine, revoltieren die Menschen. Darauf lassen sie sich nicht (mehr) reduzieren. Sie wollen in einer, in ihrer Stadt leben, voller Erinnerung, Gedächtnis, Atmosphäre, nicht in einer halbierten Welt.
Heiner Geißler ist, angesichts einer Situation, die die Griechen Dilemma nannten, nicht zu beneiden. Wie wird der Schlichterspruch lauten?
Die bisherige Schlichtung behandelte nur die eine Hälfte, die der halbierten Welt der starken, quantitativen Kräfte. Novalis’ Welt der „Zahlen und Figuren, das ganze verkehrte Wesen.“ Konsequenter- und ehrlicherweise müsste sie umbenannt werden in „Halbierte Schlichtung“. Verbleibt also eine zweite Schlichtung zu empfehlen. Um die bisher vernachlässigte, andere Hälfte, die Welt der weichen, qualitativen Kräfte zu behandeln, Lebendiges zu Wort kommen zu lassen. Denn Dichter raten uns: „Zahlen/Daten sind weniger als Eins, Lebendiges ist mehr als Eins, immer ist’s ein Vieles“.
Oder……. ?
Professor Roland Ostertag
http://www.bei-abriss-aufstand.de/2014/10/10/rede-von-prof-ostertag-bei-der-241-montagsdemo/
wurde am Mo, 14.09.2015, im neuen Schloss (wenige Meter entfernt vom Ort der Mo-Demo), das „Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der BRD“ überreicht.
https://de.wikipedia.org/wiki/Roland_Ostertag_(Architekt)
Hier nochmals seine Rede:
DIE STADT, DIE STADT STUTTGART
DIE STADT, der Stadtraum ist die höchste und anspruchsvollste Form eines Gesamtkunstwerks. Eine hochkomplex vernetzte Struktur als Ergebnis und Abbild von Geschichte, wirtschaftlichem Tätigsein, menschlichem Leben und Leiden, auch des Zerstörens. Ergebnis der Dialektik zwischen Elementen des Naturraumes und anthropogenen Ursprungs, des räumlichen Zusammenspiel der natürlichen geographischen Gestalten und der historischen Überprägung durch die Kulturarbeit von Generationen. Stuttgart ist eine von Natur und Topographie geprägte, Kulturerlebnisse bietende, Stadt mit einer Zivilgesellschaft liberaler Tradition, ob herzlicher wurde noch nicht wie in München auf die Probe gestellt. Wir schätzen sie, sie wurde für Menschen aller Welt zum Lebensort. Alle Kulturen verwirklichen ihre Welterfahrungen in ihren Städten. Stadtarchitektur ist für unsere Weltvergewisserung zentral. Stadtwanderungen sind Weltwanderungen durch die menschliche Existenz. Stadtarchitektur ist Spiegel der Welt, weil sie Spiegel der Erinnerung ist. Städte sind Lesebücher.
ZUSTAND der Stadt
Stuttgart ist eine reiche Stadt, doch ohne Vision, Identität, die alte Identität mit vielen Kulturdenkmäler haben geschichtslose Menschen zerstört. Dem Stadtwanderer bietet sich die Stadt mit einer einmaligen Topographie jedoch ohne Klang. Wo Welt sein sollte, meist nur leere, stumme Straßen, die Bauten versagen einem die Gewissheit in einem spezifischen Ort zu sein. Vor lauter Internationalität nimmt der Ortsbezug der Straßen, Gebäude ab. Eine in Solitäre aufgelöste, unwirtliche, kalte Stadt. Ergebnis blinder Planung. Die Stadt spricht nicht mehr. Sie hat ihre Seele verkauft.
GROSSPROJEKTE prägen die Stadt. Stuttgart 21, A1 Volumen ohne Raum, der beabsichtigte Irrsinn im Oberen Schlossgarten, Rosensteintunnel, die sinnlosen Einkaufstempel, beschädigen die Räume, die Kultur der Stadt Alpträume, die Kilometer raumzerstörender blauer Röhren, eher Hydrierwerk als Stadt und die verheerenden Kollateralschäden von S21 signalisieren das Ende was die Geschichte als Stadt kennt.
Irrtümer? Allerdings „kann der Geist nicht irren, da wo keiner vorhanden“ (Heinrich von Kleist). Städte halten viel aus, sie können auch umkippen. Städte, Stuttgart haben ein Grundgesetz, in dem die charakteristischen die unverzichtbaren Werte, Fundamentalien, festgeschrieben sind, die nicht verletzt werden dürfen, gepflegt werden müssen, was Stuttgart nicht kennt. Operative Eingriffe in ihre Struktur sind wie Gen-Manipulationen und zerstören den Stadtorganismus.
Alles, Menschen, Stadträume, Sozialverhältnisse, werden zum Abfall unserer verrückt gewordenen Waren- und Kapitalordnung. Wo Menschen im Weg sind, werden sie wie Ratten in Unterführungen geschickt. Wo sie ihr Leben mit Amazon einrichten, in Bluejeans ins Theater gehen, Modeschau „weiblicher Unterwäsche“ im Haus der Geschichte, braucht man sich über zerstörte Stadtlandschaften nicht wundern. Räume sind Ausdruck des Denkens der Stadt. Sind die wahren Spiegelbilder der Gesellschaft. Ergebnis der unwiederbringliche Verlust des individuellen/kollektiven Gedächtnis, des Charakters, des eigenen Sinns der Stadt. Anstelle Erzählfähigkeit vergegenständlichter Geschichte ein ortlose entzauberte Welt. Nicht Ergebnis von Denken, Anlass zum Denken.
VERANTWORTUNG
Wer ist dafür verantwortlich? Wer sind die Vollzugsbeamten der Epochenstimmung? Die von uns gewählten Verantwortlichen? Die Politiker, Stadtplaner, Städtebauer? Jede Stadt verdient die Politiker, die Stadtplaner, die Architekten, die ihrem gesellschaftlichen Zustand, ihrer Lebensweise entsprechen. Die Defizite der Stadt sind immer die Defizite der städtischen Gesellschaft. Wir sind nicht nur die Opfer von Städtebau/-planung, sind auch die Täter. Wir können mit unserer Geschichte, unvergleichlichen Lage nichts anfangen Das zeigt sich in der selbstzufriedenen Oberflächlichkeit, im Umgang mit der Stadtgeschichte, unseren Profilneurosen Die Politik, die Stadtplanung, die Hochschulen, viele Architekten haben abgedankt. Die Stuttgarter wehren sich nicht gegen diese Entwicklung, die Stadtplanung der Investoren, Bauträger die den Bauherrn abgelöst haben, die Bahn. Sie lassen sie wüten, schalten, walten ohne Rücksicht auf die Stadt. Sie verwandeln sie in ein Schlachtfeld, eine Wüste. Eine Zumutung. Bei mir, 1945, 14 Jahre jung, tauchen ähnliche Bilder der zerstörten Stadt nach dem Krieg auf. Schon seit Jahren frage ich: Wem gehört denn die Stadt?
PERSPEKTIVEN
Können wir, nachdem die Welt der modernen Städte immer unwirtlicher wird, wieder eine menschliche, sprechende Welt, Stadt schaffen? Ich bin der Meinung, wir können den unendlichen Fortschritt in den Verlust, der Humanität, die zivilisatorische Katastrophe, beenden. Denn wir erinnern uns an die Stadt als Spiegel der Erinnerung. Unsere Zukunft wächst aus der Zivilisation des Erinnerns. Während meiner 60-jährigen Tätigkeit stellte ich Fragen.
Hannah Arendt auf die Frage: Was für unsere Welt noch zu hoffen bleibe, wenn, die Stadt untergegangen sei?
Antwort: „Die Menschen sollten in Gedanken, Träumen, in den Gassen ihrer versunkenen Stadt sich bewegen, wie das Sonntagskind des Märchens. Um sie mit positiven Gedanken, an die Oberwelt zurück zu bringen. Die Gefährdungen seien Chancen. Aus der Hoffnung, dem Verlangen, der Imagination, aus unserem Lebensgefühl könnten neue städtische Räume entstehen.“
Wolfgang Hildesheimer, den melancholischen Dichter der Hoffnung, der in den 80er Jahren Mozarts Requiem begleitete. Angesichts der Zerstörung der Städte, erhob er Anklage gegen die Schreibtischtäter Planer und Politiker: „Lass kein Requiem für sie, Herr gib ihnen die ewige Ruhe nicht, denn sie haben diese Gnade nicht verdient, systematisch ruinieren sie deine Schöpfung“.
Am Ende seiner Auseinandersetzung mit Mozarts Requiem fragt er: „Vielleicht hofft es in mir?“ Antwort: „Solange ich bin, hoffe ich.“
Papst Franziskus fordert in seiner Umwelt-Enzyklika angesichts der Zerstörung der Städte, der Erde, Schröpfung der Schöpfung nicht zu resignieren, wir sind kein Labor der Technik, sind nicht Eigentümer der Erde, sind Treuhänder, Hüter. Alle Projekte, Umwelt, Ethik, Politik, Religion, Soziales sind zusammen zu denken. Wir haben einen gemeinsamen Ursprung und Verantwortung.
Der kürzlich stattgefundene Kirchentag hatte die Botschaft: „Damit wir klug werden“.
Was muss geschehen, damit wir klug werden? Nicht das Ich, nur das gemeinsame Wir zählt. Angesichts skandalöser Armut und Selbstzerstörung der Erde kann nur protestantische Selbstkritik zur Klugheit führen, die Schöpfung bewahren.
Dies uns, den Regierenden, Parteien ins Stammbuch, sie weisen auf unsere deren Verantwortung hin, eröffnen Perspektiven. Wir dürfen die Hoffnung nicht auf geben wie einen Brief ohne Adresse. Städte, Bordeaux, Bologna, Oslo sind seit Jahren dabei ihren Zerfall durch kluge Stadtpolitik aufzuhalten, aus der Weltlosigkeit, der Moderne zur lebendigen Stadt der Zukunft zu gelangen, der Stadtwanderer seine Stadt neu erlebe, als Spiegel der Welt. Stuttgart muss daran mit Geist, mit einer Vision teilnehmen, sich seines Bezugs zur Welt, seiner Natur, Topographie, seiner Geschichte erinnern, die in keiner anderen Stadt so mit einander verwachsen sind. Sie begründen die Persönlichkeit der Stadt und liegen in ihrem Grundriss verwahrt, sie müssen zum Gesetz des Denkens, Handelns bei der Suche nach der Lebensform, Identität der Stadt werden. Die Zukunft der Stadt liegt noch vor uns. Das Potential der Stadt wird ja nicht genutzt.
An dieser Sicht, an einem überzeugenden Plan fehlt es. Höchste Zeit für eine Idee von Stadt, das isolierte und isolierende Denken, Planen durch ein Gesamtkonzept zu ersetzen, daraus Vorgaben für Politik, Planer, Architekten abzuleiten. Die Stadt der Zukunft kann nur entstehen wie die Stadt der Vergangenheit. Durch Übernahme des Bewährten und behutsame, überlegte Übernahme und Verbesserung des Neuen. In der Standortkonkurrenz der Städte spielt die Passantenfrequenz in der Königstraße, das schnelle Durcheilen/Verlassen-Können der Stadt, keine, die Atmosphäre, Milieuqualität, das räumliche Angebot, die Emotionalität der Stadt die entscheidende Rolle. Langfristige Probleme brauchen zur Lösung langfristiges Engagement. Ich weiß nicht nur lusterfüllt, sondern mühsam, bedarf täglichen Niederlagen-Training. Meine verbleibenden Tage reichen nicht. Jüngere sind dran. Ich werde weiterhin dabei sein. Nicht nur aus Sorge, sondern weil die Stuttgarter das Recht auf eine schöne, eine menschenwürdige, lebenswerte Stadt haben. Dies eine Liebeserklärung eines Stuttgarters an Stuttgart.
Dank fürs Zuhören.
16.05.2018 um 08:00